Sammlung Jugendlyrik

1964 gab Edwin Kratschmer, damals Deutschlehrer in Unterwellenborn, im Selbstverlag ein Bändchen mit Schüler-gedichten heraus: „Und Mut gehört zum Wort", 23 Gedichte der drei 15/16-jährigen Schüler Peter Beitlich, Volker Grillitsch und Dieter Schnappauf, die er zum Schreiben provoziert hatte, halbfertige Produkte Halbfertiger, Probleme enthaltend, die sie bewegten, begeisterten oder empörten..., denn seiner Aufrichtigkeit braucht man sich nicht zu schä-men.
Die Texte wurden wegen ideologischer Mängel sofort offiziell verrissen. Der Publizist Hannes Würtz, der Lyriker Adolf Endler u. a. leisteten jedoch „Schützenhilfe" und standen den staatsumwälzenden Versen bei, die einen Staub aufwir-belten, der die halbe DDR verdunkelte…
In der Folgezeit begannen Margret und Edwin Kratschmer mit Hilfe der Medien systematisch Gedichte junger Leute zu sammeln. In Bernd Jentzsch, Lektor beim Verlag Neues Leben Berlin, fanden sie einen Förderer. So entstand 1967 der 1. Band „Offene Fenster. Schülergedichte".
1969 legte Kratschmer an der Universität Leipzig in den Fachbereichen Literaturwissenschaft und Psychologie eine Dissertation vor, in der er Fragen der Poetogenese an Hand der inzwischen von ihm und seiner Frau Margret gesam-melten Jugendgedichte untersuchte.
Edwin Kratschmer rief 1965-1974 am Kulturpalast Unterwellenborn einen Lyrikclub ins Leben, dem u. a. Peter Beitlich, Dieter Schnappauf und Jürgen Fuchs angehörten. (1974 stellte Kratschmer wegen offensichtlicher Stasi-Observation die Clubarbeit wieder ein, um die Jugendlichen nicht zu gefährden.) Er stand in enger Verbindung mit Hannes Würtz, Mitarbeiter der Jugendzeitung Junge Welt, der 1969-1983 ebenfalls einen Lyrikzirkel in Berlin-Lichtenberg leitete, dem die jungen Autoren G. Adloff, F.M. Barber, L. v. Billerbeck, R. Bonack, St. Döring, J. Jansen, W. Karma, Th. Lut-hardt, St. Mensching, E. Mieder, Ch. Schünke, J. Sparschuh und P. Werner angehörten.

Seit 1967-1990 erschienen unter der Herausgeberschaft von Kratschmer in nahezu regelmäßiger Folge acht weitere Bände der Anthologien „Offene Fenster. Gedichte junger Leute", ab Band 2 in Zusammenarbeit mit Margret Kratschmer und ab Band 4 in Zusammenarbeit mit Margret Kratschmer und Hannes Würtz, der von 1967-1990 in der Jungen Welt über 400 Poetensprechstunden veröffentlichte und damit Zehntausende von Text-Einsendungen jugendlicher Schreiber auslöste. Band 9 der Offenen Fenster fand 1990 keinen Verleger mehr und wurde erst 1995 in der edition mk in kleiner Auflage herausgebracht.

Im Verlaufe von 26 Jahren (1964-1990) sammelten Kratschmer / Kratschmer / Würtz in Verbindung mit der Herausgabe der Offenen Fenster etwa 100.000 Gedichttexte von etwa 15.000 Schülern und jungen Leuten zwischen 7. und 25. Lebensjahr. Dazu kam eine umfangreiche Korrespondenz mit schreibenden Jugendlichen über die Junge Welt, geführt von Hannes Würtz, mit über 4000 persönlichen Gutachten in Briefform von Edwin Kratschmer. Sie begründeten damit die Sammlung Jugendlyrik der DDR.

Die Texte der SAMMLUNG kamen aus folgenden Einzugsbereichen:
-  aus persönlichen Kontakten, u. a. aus der eigenen Unterrichtsarbeit als Deutschlehrer und Leiter eines Lyrikclubs (1964-1974),
-  über private Briefkontakte,
-  als Einsendungen auf einen eigenen Aufruf in der Wochenzeitung Wochenpost (um 1967),
-  aus Einsendungen auf die BASAR-Lyrik-Gespräche von und mit Edwin Kratschmer im Deutschen Fernsehfunk (1970),
- aus Einsendungen zu 16 amtlichen und gesellschaftlichen Aufrufen und Wettbewerben auf Kreis-, Bezirks- und Repu-blikebene (1968–89),
-  aus Bewerbungsunterlagen und Ergebnissen zu den Zentralen Schweriner Poetenseminaren (1970–89);
-  aus 147 in der DDR erschienenen Anthologien mit Gedichten schreibender Schüler / Studenten / Soldaten;
- aus Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Fachzeitschriften (z.B. Junge Kunst, Neue Deutsche Literatur, Tem-peramente);
-  aus Debütbänden jugendlicher Autoren;
-  der überwältigende Teil der SAMMLUNG stammt jedoch aus Einsendungen zu den 422 Poetensprechstunden, die 1967–92 von Hannes Würtz in der Jungen Welt und aus der Herausgebertätigkeit von Kratschmer / Kratschmer / Würtz hervorgegangen sind.

Unter ihnen befinden sich in Überzahl die naiven Schreibanfänge vieler Jugendlicher, die das Schreiben rasch wieder aufgegeben haben, weil Erfolg sich nicht einstellen konnte. Doch selbst noch die einfachsten Äußerungen erweisen sich noch als Zeitzeugnisse, die Befindlichkeiten reflektieren. Sie liefern Aufschluss über Interessen, Bedürfnisse und Einstellungen der jugendlichen Schreiber und sind Abbilder der lyrikästhetischen Qualifikation junger Menschen und sind somit u. a. ein wichtiger Beitrag zur Zeit- und Mentalitätsgeschichte der DDR.

-  Edwin Kratschmer (Hg.): Und Mut gehört zum Wort. Schüler schreiben. Erste Versuche. Unterwellenborn 1964
-  Hannes Würtz in: Junge Welt v. 1. 4. 1965 und Adolf Endler in: Neue Deutsche Literatur. Berlin 2/1965, S. 157 ff.
-  Edwin Kratschmer (Hg.): 
Offene Fenster. Schülergedichte. Berlin 1967
-  Edwin Kratschmer: 
Das poetische Schaffen Jugendlicher in der DDR. Diss. Leipzig 1969. Neu bearbeitet in: Edwin Kratschmer: Poetologie des Jugendgedichts. Ein Beitrag zur Poetogenese. Frankfurt/Main 1996
-  Edwin und Margret Kratschmer (Hg.):. 
Offene Fenster 2 und 3. Schülergedichte. Berlin 1970 u. 1972 und Edwin und Margret Kratschmer / Hannes Würtz (Hg.): Offene Fenster 4 bis 8. Gedichte junger Leute. Berlin 1973, 75, 77, 81, 85
-  Edwin und Margret Kratschmer / Hannes Würtz (Hg.): 
Offene Fenster 9. Gedichte junger Leute. Manuskript. edition mk,
1990/95

-  Friedhelm Berger: Hunderttausend Texte. Interview. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen. Bucha 1/2012, S. 129-141