Edwin Kratschmer: Schattentanz
Roman

UND-Verlag Stadtroda 2015. 432 Seiten, 24.90 Eur. ISBN 978-3-927437-56-2

 

Der Autor, 84, „Scriptor et Pictor“, wie er sich nennt, ist nimmer willens, die „Galeerenarbeit“ eines Romanciers auf sich zu nehmen. Er lässt sein Leben auf der Erinnerungscouch durch den Strohmann und Ghostwriter  Ed Kraut Revue passieren. Situationen aus Kindheit, Jugend und Alter werden reflektiert. Aber Ed Kraut erweist sich als rigoroser Skeptiker und kurvt auf Erkundungsreise durch die Erinnerungsräume seiner Vergangenheit. Die Reise wird zu abenteuerlicher Fahrt auf Gedankenrouten und durch Denklabyrinthe. So schildert er seine Austreibung aus dem Paradies der Kindheit in die Hölle des Krieges, des Reifens in einer Diktatur und seine Ankunft im Hochalter. Das geht einher mit Totalverlust an Weltvertrauen und führt zu illusionsloser Welterkenntnis und Menschenschau.

Ed, der Protagonist, am Lebensende bei Gedächtnissurf und gehetzt von Bilderböen, gnadenlos sich selbst gegenüber bei radikaler Selbstinventur und rumpelkistenhaftem Dahinterdenkeln. Es entsteht ein zeitlupenhaftes Puzzle über die Kata-strophe des Alterns. Die Handlung verästelt sich dabei bis zu viertem Grad und besteht gleichsam aus einem Gedanken-potpourri. Sie ist – postpostmodern – geprägt von Hektik, Entgleisung und Auflösung bekannter Strukturen.

In Teil I, dem Buch Sinkflug, berichtet Ed Kraut, Deutsch- und Kunstlehrer, der in seiner Bücherwelt lebt und die Wände mit Erinnerungsbildern vollmalt, über seine verworrenen Lebenswege als Schüler und Lehrer, besonders aber über seine ehemaligen Internatsfreunde, mit denen er vor sechs Jahrzehnten eine „Jazzband“ gegründet hat.

In Teil II, dem Buch Totentanz, sinniert er über eine Festrede, die er anlässlich einer Feier des Gymnasiums halten soll. Er lädt hierzu die Band von einst noch einmal zu letztem Auftritt ein. Das Wiedersehen endet mit einem Fiasko: Die Zeit hat die einstigen Freunde zu Kontrahenten gemacht. Verständigung ist nimmer möglich. Ein Zusammenspiel misslingt. Auch zur Festrede kommt es nimmer, da Ed nach Meas Tod sein Dasein „alt und lebens sat“ beendet.

Aus der Tiefe des Gedankenstroms tauchen schattenhaft etwa hundert Personen auf (Familienangehörige, Mitschüler, Lehrerkollegen, Schüler, Künstler mehrerer Generationen), darunter Figuren aus früheren Romanen und Erzählungen des Autors. Sie schwimmen in der Bilderflut und tauchen unvermutet auf und ab: Jede Figur eine Melange aus lebenden und fiktiven Personen. Sie agieren in einem Irrgarten von Kulissen, sind Marionetten ohne Atem, die einen Zusammenhalt des Werkes unmöglich machen. Die meisten Figuren sind nur Gesprächsstatisten, sie bleiben gesichtslos, haben kaum Outfit, Eigenleben und Biografie. Sie haben die Bedeutung von Sprechblasen hinter platonischer Schattenwand und erfüllen als eine Art Stichwortgeber erzählstrategische bzw. dialektische Zwecke. Es ist dann nicht von Belang, wer etwas denkt, sagt oder tut, sondern, dass es gedacht, gesagt oder getan wird. Gesagtes und Gedachtes fließen ineinander.

Der Text quirlt als Selbstgespräch wie eine Brabbelmaschine per Gedankenschübe im Erinnerungsstrom und simultan quillt der Endlostext, gerät zu dichtem Textteppich, ist aber Form bis in die letzte Miniatur hinein. Streckenweise ists Blankverssprache pur. Solcher Gedankenstrom hat den Vorteil, dass man überall in ihn ein- und aussteigen kann. Vielleicht aber ists auch nicht mehr als eine Stimme im wüsten Stimmengewirr einer allweyl rauschenden Oral History.

Kratschmer bekennt sich zum Individuum als unentwirrbarem Wesen. In monströsem Puzzle zeichnet er aus persön-lichem Blickwinkel ein Leben in Unterdrückungssystemen mit Tabus und Halbwahrheiten, unverwüstlichen Utopien und verlorenen Illusionen. Am Ende ist es ein Stück Diktaturprävention nach sokratischem Prinzip: Behauptung – Provokation – Ratlosigkeit.

Derart wird das Alters- und Spätwerk „Schattentanz“ zu testamentarischem Erinnerungsbuch aus biografischer Betrof-fenheitsperspektive. Es ist ein Plädoyer aufs Leben und Sterben.

Mit diesem Buch erweitert Kratschmer seinen Sündenpool um die Erfahrungen Gewalt, Kadavergehorsam und Verrat.