Edwin Kratschmer: Briefe 1957–2005
edition mk, 2005, 122 Seiten

Seit Horaz' Epistulae und den Lettres der Aufklärer gilt Korrespondenz als kulturelle Kommunikation. Vielleicht sind die hier vorgelegten Briefe als Gelegenheitsskripte so etwas wie an einen bestimmten Dialogpartner gerichtete autobio-grafische Dokumente und geben Aufschluss über den Status quo eines Ich, von dessen psychischer Verfasstheit, seinen Erfahrungen, Erkenntnissen, Überzeugungen, Bedrohungen und Verstrickungen, freilich abhängig von der jeweiligen Schreibsituation, dem verhandelten Gegenstand und vor allem vom Zeitenlauf.
Briefe lassen sich allgemein mindestens drei Kategorien zuordnen: Sie sind (A) Psychogramm des Schreibers, (B) im Sinne Sloterdijks Dokumente eines Blasen-, Sphären- und Schaumbewusstseins in  (C) einer bestimmten historischen Situation. Daher muss sich jedes dieser Skripte nach den Gesetzen der Aussagenlogik befragen lassen:
(1) Wer teilt da (2) was (3) wem (4) wann (5) mit welcher Erfahrung (6) zu welchem Anlass (7) unter welchen Bedingun-gen und Umständen (8) mit welcher Absicht und (9) mit welchen gemutmaßten Folgerungen mit?
Derart sind Briefe persönliche Ur-Kunden über momentanes Lagebewusstsein und geben insgeheim interne Facetten preis. Letztendlich sind sie zu Schrift geronnene Mitteilungen an Zeitgenossen (hier: Künstler, Schriftsteller, Wissen-schaftler, Lehrer und Familienangehörige) auf einer zufällig oder willentlich vorangetriebenen Lebensbahn.