Interview mit Edwin Kratschmer
Von Udo Scheer

Aus: Christel Fenk (Red.): Edwin Kratschmer – Wärmestrom in bleierner Zeit.  Jena 2006
Mit Beiträgen u.a. von U. Scheer

 

Ihre Biografie benennt mehrere Berufe: Lehrer, Psychologe, Galerist, Publizist, Kunst- und Literaturwissenschaftler – und in einem Alter, in dem andere in den Ruhestand gehen: Universitätsprofessor.
Ich habe 32 Jahre als Lehrer gearbeitet. Aber dann wollte ich nicht mehr ein System bedienen, das mich misstrauisch ob-servieren ließ. So stieg ich 1983 aus, wurde
"Freiberufler", betrieb – gemeinsam mit meiner Frau – eine Galerie und arbeitete publizistisch und kunstwissenschaftlich. 1990 berief man mich zum Schulleiter und ich begründete das Heinrich-Böll-Gymnasium in Saalfeld. 1992 wurde ich an die Uni Jena gerufen. Dort hielt ich Vorlesungen zur Jugend- und DDR-Lyrik, zur Ästhetik der Gewalt, initiierte die Internationalen Jenaer Poetik-Vorlesungen, organisierte Symposien, darunter zu "Literatur und Diktatur" und betreute das Archiv Jugendlyrik.

Jeder dieser Marksteine böte Stoff für eigene Gespräche. Beispielsweise schuf die von Ihrer Frau und Ihnen initiierte Kunstsammlung der Maxhütte Unterwellenborn Raum für staatskritische Künstler in der DDR.
Ich komme von der bildenden Kunst, wollte Maler werden. Geblieben ist der Umgang mit der Kunst als Galerist. Schließ-lich wollten wir nach hundert Ausstellungen Kunst nicht nur zeigen, sondern auch erwerben. Wir fanden Förderer. Die Sammlung, 278 Werke von 51 Künstlern, zumeist Kunstwerke aus den späten Achtzigern, gehört heute dem Freistaat Thüringen und wurde schon ein Dutzend Mal im In- und Ausland gezeigt.

Es ist heute kaum noch vorstellbar, auf welche enorme Widerstände Sie immer wieder stießen, selbst noch 1990, als Sie in Saalfeld ein humanistisches Gymnasium mit dem Namen des Literatur-Nobelpreisträgers Heinrich Böll durchsetzten. Woraus bezogen Sie Ihre Energie?
Neues ist immer ungewohnt und bedarf gehöriger Anstrengung. Ein neues Gymnasium mit neuer Schulpolitik kann das nicht mit alten Mitteln. Böll schien mir ein gutes Fanal.

Und Mut gehört zum Wort – unter diesem programmatischen Titel sorgte 1964 Ihre Schülerlyrik-Anthologie für einen Verriss, wie er nur in Diktaturen möglich ist.
Ein Schüler, 16, beging Selbstmord. Sein Nachlass waren 14 Gedichte, erschütternde Selbstzeugnisse. Da wird man hell-hörig für solche Texte und wir begannen sie republikweit zu sammeln.

Sie wurden zu einem Wegbereiter der Jugend-Poetenbewegung in der DDR. Wie wichtig war aus Ihrer Sicht die Ventilfunktion der Lyrik in einer geschlossenen Gesellschaft?
Lyrik vermag auf metaphorische und versteckte Weise die Dinge anders auszusprechen als Klartexte. Poetischen Aussagen ist zuweilen nur schwerlich beizukommen. So kann in einer Diktatur das Schreiben von Gedichten zu einer beredten, daher aber auch besonders beargwöhnten Subkultur werden. Also sammelten wir lyrische Texte, zuletzt waren es hunderttausend und es kam – in Zusammenarbeit mit Hannes Würtz – zur Herausgabe der Anthologiereihe Offene Fenster. Die Jugendlyriksammlung gehört heute der Uni Jena. Über die Poetogenese, das Werden zum Dichter, wie auch über die Kunstsammlung der Maxhütte haben wir inzwischen Buchdokumentationen vorgelegt.

Noch 1995 löste Ihre Studie Dichter Diener Dissidenten zum Sündenfall der DDR-Lyrik viel Widerspruch aus.
Das Buch war zum Großteil bereits zu DDR-Zeiten entstanden. Es waren vorwiegend subjektive Notate zu Lyrikern. Diese zumeist sehr kritischen Einschätzungen hatten aber damals – wie fast alles, das ich schrieb – keine Aussicht auf Veröffentlichung. Nach dem Umbruch von 1989 war ich in der Weiterbildung von Deutschlehrern tätig. Ich sah deren oft große Ratlosigkeit bei der Beurteilung der bislang ideologisch obligaten Lehrplan-Dichter. So führte ich meine Aussagen und Bewertungen zusammen und machte daraus ein Angebot, bisherige Fixierungen zu überdenken. Das sollte und musste provozieren.

Im Jahr 1999 wurde Ihnen für die von Ihnen ins Leben gerufenen „Internationalen Jenaer Poetik-Vorlesungen zu Beförderung der Humanität"Würdigung zuteil. Über neun Jahre hatten Sie internationale Schriftsteller von Rang nach Jena geholt. Sie kamen u. a. aus Argentinien, Tschechien, Polen und Ungarn, aus der russischen und serbischen Opposition. Das war einmalig nach 1989 im Osten Deutschlands. Sie haben diese Poetik-Vorlesungen in vier Büchern dokumentiert und sie damit über die Universität hinaus bekannt gemacht.
Ich erfüllte mir einen Herzenswunsch, indem ich – unterstützt von Böll-Stiftung, Deutscher Bank und Collegium Europaeum Jenense – Schriftsteller nach Jena einlud und sie bat, vor allem über ihre Autorerfahrungen in Diktaturen zu berichten. Dabei sollte auch erkundet werden, welchen Wert der Herdersche Humanitätsbegriff in unserer Zeit noch hat. Der Themenkatalog reichte von Jürgen Fuchs' Poesie der Zersetzung bis zu Imre Kerdész'
"Hinrichtungsmaschine".

Die Deutsche Nationalbibliothek führt von Ihnen etwa 30 Buchtitel. Das bezeugt schreiberische Vitalität. Aber kaum weniger Manuskripte haben Sie noch „auf Halde" liegen. Was steht bei der literarischen Arbeit für Sie im Zentrum?
Ich habe seit meinem 16. Lebensjahr – zumeist für mich – geschrieben: Gedichte, mehrere Romane, Dramen, Essays, Monografien, Beiträge zu Kunst und Literatur, habe Buchreihen herausgegeben, darunter die Offenen Fenster, die geretteten texte und die Poetik-Vorlesungen; daneben entstand eine Blaue Reihe, eben jene Bücher auf Halde in eigener edition mk. Davon entlasse ich zuweilen eines in die Öffentlichkeit.

2002 erschien Ihr Essayband Das ästhetische Monster Mensch. Sie nannten das Buch "Fragmente zu einer Ästhetik der Gewalt". – Ihre Erfahrung oder ein Spiel mit dem Widerspruch in sich?
Ich kriege das nicht zusammen: das ungeheuerliche Treiben der Menschen in der Welt und den Belcanto in der Kunst. Ich habe zu diesem Paradoxon Beispiele zusammengetragen, etwa über den Terror des schönen Scheins, über die Gewalt des Wortes, des Gelächters oder über den Triumph des Bösen. Ich wollte damit ein Angebot zu Besinnung, auch Selbstbesinnung, machen.

Zwischendurch erschienen von Ihnen immer wieder streitbare Essays, zum Beispiel über den Tatort Heimat, über Kunst im Clinch, zum Schreiben am Abgrund, über die Crux mit Brecht, über Tübkes Superbildkonserve von Frankenhausen, zu Autoren wie FuchsKunze, Schädlich, um nur einige zu nennen...
Manchmal gerät man in Situationen, wo man sich zu Wort melden muss, weil man auf Grund seiner Erfahrung eine andere Meinung hat als der Mainstream. Dann gerät man in Schreibzwang. Manches ist auch nur wichtig, um die Trag-fähigkeit der eigenen Meinung zu erproben. Wenn sich in ihr ein paar Leser wiederfinden oder sich daran reiben, kann es mich nur freuen!

Ihr Roman Habakuk oder Schatten im Kopf machte Furore. Sie veröffentlichten ihn erst in Ihrem siebzigsten Lebensjahr, obwohl sie dreiunddreißig Jahre zuvor – im Jahr des Mauerbaus – an ihm zu schreiben begonnen hatten. Er ist ein anspruchsvolles, sprachartistisches Werk geworden. Ihr Klappentext kulminiert in der Frage: Wienurwie solldarfmuss man in Diktaturen leben?
Man schleppt ja seit Kindheitstagen schlimme Lasten mit sich herum. Ich gehöre noch zur Hitlerjugend-Generation, über-lebte Krieg und Vertreibung, während meine drei Geschwister eines gewaltsamen Todes starben. Es gab viele Bewäh-rungs- und Versagenssituationen, die mich bis ins Alter in den Träumen bedrängen. Das quillt dann eines Tages erbar-mungslos heraus, wird Wort und schließlich Buch. Die Schreibweise mag manchen verstören. Aber Beifall ist mir so wie so kein Thema.

Im Habakuk sagen Sie: „Die Geschichte ist ein langlanger Horrortrip." Doch gäbe es immer wieder die, „die das Vergessen trainieren". Welche Antwort kann der Autor des Habakuk auf seine eingangs gestellte „Lebensfrage" geben?
Keine. Die Welt ist, wie sie geworden ist. Man kann lediglich einige Möglichkeiten durchspielen. Alles andere wäre Ideologie oder Utopie.

Ihre Publikationen weisen Sie als Wechselgänger aus zwischen Wissenschaft und Kunst. Empfinden Sie das als Vor- oder als Nachteil?
Kunst und Wissenschaft reflektieren Welt auf ganz unterschiedliche Weise. Kunst betreibt vieles, wovon die Kunst-wissenschaft notwendigerweise noch keine Ahnung haben kann. Die Wissenschaft befindet sich dadurch notgedrungen oft im Nachtrab und sucht dann nach Erklärungen, Regeln, Algorithmen. Das heißt, sie will die allweil ausbrechende Kunst analysieren und systematisieren, sie will also das Unmessbare messen, Maß nehmen am Maßlosen. Kunst und Wissenschaft abenteuern demnach in jeweils anderen Gefilden. Liegen sie in einer Person, so kann es zu Abstoßung oder dialektischer Hassliebe kommen.