Edwin Kratschmer: Tübkes Superbildkonserve
In: Strukturen der Wirklichkeit
Erlangen 3/2001, S. 121-136. ISSN 1616-4660

Nach wie vor pilgern täglich an die Tausend nach Tübke-Stadt Bad Frankenhausen, um die gigantische Rundbild-Epopöe zu bestaunen, jenes tausendfältige Figurenspektakel, das Tübke in letzten Tagen der DDR als Superbildkonserve in die Landschaft gesetzt hat. Seither streitet man – zuweilen etwas ratlos –, wer der eigentlich ist, der so etwas Nationalpreisanstößiges zu seinem Testament gemacht hat. Die Bildführer erklären indes bis heute unverdrossen seine Vivisektion des Weltgetriebes. Das Diorama – gestern doch auch mutig in die DDR-Landschaft eingebrachtes Trojanisches Pferd voller gewagter politischer Anspielungen – ist seit dem Tag nach der Eröffnung jedoch bereits Museum: aber trotz historischer Reminiszenzen ein allzeit gegenwärtiges. Dieser einst hochdotierte Tübke ist, und er wird in der Welt bleiben, wem es auch gefallen mag oder nicht. Die Kunstgeschichte muss sich mit ihm befassen. Und zumindest einem kleinstädtischen Fremdenverkehrsverein wird er weiterhin tiefschwarze Zahlen bescheren. Darüber hinaus finden jedoch auch große Tübke-Restrospektiven statt.
Von Werner Tübke reden heißt aber vor allem: von Bad Frankenhausen reden, und im Streitgespräch also die Tübke-Epopöe, -Bilderböe, die er die frühbürgerliche nennt und mit der er ein Nationalepos meint oder gar unser Menschheitsdrama, dargestellt in 75 Szenen mit dreitausend Akteuren. Der Regisseur Tübke hieß sie ihre Rollen zu übernehmen und ihre Plätze einzunehmen auf dem gigantischen Spielfeld des Rundhorizonts. Tübke kann jedoch nur als Heutiger empfinden, als einer, der seine Kindheitserfahrungen im Faschismus gemacht hat, der weiß, was ein Weltkrieg ist, was Buchenwald, was Klassenkampf und -krampf und der Kampf von Weltsystemen und selbstherrlicher Ideologien. Die Gnade seiner späten Geburt erweist sich derart bald als Wissenslust, bald als Wissenslast. Wie denn mit dem Wissen um Auschwitz und Gulag umgehen? Und Tübkes Bildtäterschaft resultiert aus solcher Zeitzeugenschaft. Die Kostüme und Kulissen mögen die Komparsen von den Altvorderen geliehen haben; doch der historische Formendialekt und die Draperien sind lediglich das Trojanische Pferd, mit dem Tübke seine Mannschaft in unsere Arena geschleußt hat.

Edwin Kratschmer, einst in Greifswald Kommilitone Tübkes, reflektiert darüber.