Edwin Kratschmer (Hg.): Erinnern provozieren
Jenaer Poetik-Vorlesungen zu Beförderung der Humanität 1995/96
Collegium Europaeum Jenense • Heinrich-Böll-Stiftung Köln 1996 • 280 Seiten
ISBN 3–927760–27–7

Das Gedächtnis ist kurz, wenn es nicht provoziert wird. Die Impulse aus der Vergangenheit verstummen, wenn sie nicht reaktiviert werden. Erinnerung schlägt um in Vergessen, wenn nicht wer dran rüttelt. Erfahrung schmilzt weg wie Schnee von gestern. Die Fahrt übers Schlachtfeld von ehedem allenfalls noch Touristenattraktion. Geschichte verkommt zur Statistik. Menschliches Bewusstsein geht drüber weg wie über längst bezahlte Rechnung.
Totalitarismen prägen ihre Über- und Untertanen lebenslang, die Spuren bei Opfern und Tätern sitzen tief. Das wissen vor allem die Betroffenen. Und Schriftsteller sind – falls sie sich nicht in der eben überstandenen Diktatur als Nomenklaturkader bequem eingerichtet haben – wichtige, weil der Sprache mächtige, Augen- und Ohrenzeugen. Oft genug haben sie zu den "Feindpersonen" gehört mit spezifisch geprägter Geschichte und "zersetzter" Biografie.
In den Poetik-Vorlesungen wurden daher Zeitzeugen befragt, die ein Lied davon zu singen wissen: Daniil Granin und Lew Kopelew aus Russland, Tadeusz Rózewicz aus Polen, István Eörsi aus Ungarn, Marcos Aguinis aus Argentinien und die "Ostdeutschen" Lutz Rathenow, Hans Joachim Schädlich, Joachim Walther, Gottfried Meinhold und Gabriele Stötzer.