Edwin Kratschmer: Menetekel
150 Blocktexte aus sechs Jahrzehnten

Mit einem Vorwort von Linn Kroneck
UND-Verlag Stadtroda 2013. 224 Seiten. 14.90 EUR, ISBN  978-3-927437-59-3

Edwin Kratschmer: Post Mortem
Blocktexte
Mit einem Vorwort von Maren Kratschmer-Kroneck und einem Nachwort von Linn Kroneck
edition mk Saalfeld 2021, 120 Seiten, 10 EUR, ISBN 978-3-00-069111-9

 

Gedanken Momente Notate Zitate Torsi Fragmente
Die ersten Gedichte entstanden im Nachkrieg. Da war der Autor Schüler an der Bad Frankenhausener Oberschule. Er hatte mit Verve in der Luther-Bibel und in den Blumen des Bösen gelesen und vieles zu bittrem Sud verrührt. Es war ein Schreiben aus Not, Notwehr, Zuflucht und Trost zum Zwecke der Affektableitung gegen Verhärtung und Versteinerung bis hin zum Zwecke der Zeugenschaft über rohe Zeit.

Und er erfuhr dabei: Befreiendes Schreiben funktioniert nur, wenn er alles zu seiner Sache macht, unbarmherzig in sich horcht, auf jenes Stottern und Stammeln, das unzensuriert aus ihm herausbricht. Und er facht an den Feuerofen Poesie und begegnet dabei vielleicht etwas mehr seiner Identität, etwa so: Halt doch einmal stumm und werde Wort! Sprache pur! Denn als Literaturlehrer, -professor, Lyrikherausgeber und Initiator internationaler Poetik-Vorlesungen kennt er das „Museum der modernen Poesie". Er weiß um ihre "Wasserzeichen" und treibt ein freies und zuweilen frivoles Spiel mit ihnen – und stanzt dann alles zu Blöcken. Ihn peinigt Schönsprech, Geläufiges, Läufiges, das wie Honig aus Feder fließt, wo jedes Wort in aalglatt formuliertem Sang an grammatisch rechter Stelle, wo sich selbst Ungeheuerlichkeiten wie Singslang und als Balsam lesen. Wo jedes Wort wohlgeraten und nach Maß, wo Sprech zu patentierten Fertigteilen ver-ramscht sind, sodass man nimmer merkt, wo das Unheil hockt. So liegt er neben dem Mainstream. Er setzt auf bedin-gungslose Subjektivität. Vielleicht ist Glaubwürdigkeit anders auch nicht zu vermitteln.
Derart ist ihm Schreiben ein renitenter Ausbruch aus Norm, Zwang, Vorschrift, Beton und Tyrannis. Es ist ihm Entrege-lung von Gebot und Verbot. Zugleich aber erfährt er die Erkenntnis, immer auch an Grenzen zu stoßen, ummauert und arretiert zu sein. Vielleicht daher der Zwang, das Wortmaterial als Fließtext – Enjambement total – in Quader zu gießen, streng in diese Blöcke zu verfüllen mit der Befürchtung, Wort und Sinn nicht allzu flüssig oder gar süffisant darzubringen. Wer sie genießen will, muss wohl erst die Texte nachkosten, Metapher für Metapher.

Und er hat erfahren: Das Leben ist nur ein Provisorium. Das hat ihn zu ohnhäutigem Realisten und Skeptiker gemacht, der mit siebtem Sinn für alles Widersinnige und Zerstörerische Erschütterungen albtraumhaft registriert. Dabei streicht er den Bass der schwarzen Poesie. Am Ende sind es zu Sprachblöcken getrimmte Lebensmomente, in ihnen die Kunde von einem gepressten Dasein. Er nennt die Texte „Mene mene tekel" wie jene Unheil-Schrift an der Wand und er outet sich damit als Kassandras Bruder im Geiste.
Linn Kroneck