Edwin Kratschmer: Wahnwald
Roman
UND-Verlag Stadtroda 2011. 256 Seiten. 24.90 EUR, ISBN 978-3-927437-42-5

Ed, achtzig, kehrt kurz vor seinem Tod noch einmal an den Schindhang, der Heimat seiner Ahnen, zurück und erfährt dabei, wie lebendig sie noch in ihm sind.
Der Schindgau – „Ahnwald“, „Wahnwald“, deutsche Sprachinsel im Osten – ist der Schicksalsort der Familie Kraut, die dort viele Generationen bis zu ihrer endgültigen Vertreibung gesiedelt hat. In fünf Kapiteln, die immer tiefer in die Historie zurückführen, lässt der Autor seine Ahnen zu neuralgische Zeitereignissen in Schicksalsjahren auferstehen: 1945, 1866, 1805, 1626 und 1423. Sie bilden die rotierende Großkulisse, aus der die Personen und Ereignisse in Fragmentcollagen mit eigenen Geschichten heraustreten, und es sind Geschichten aus einer entfesselten Historie, in der sich völkermor-dender Totschlag zyklisch und sturzflutartig wiederholt hat.
Dabei erlebt sich der Autor déjà-vu-artig in seinen Vorfahren, die in enger Enklave als Siedler, Bauern, Häusler, Tagelöhner, Knechte, Lehrer, Schreiber, Christusmaler, Schankwirte, Heiler, Wahrsager, Landsknechte und Soldaten, eben als Opfer und Täter, Aufstrebende und Untergehende, Gewinner und Verlierer, Eroberer und Vertriebene, als Un-terdrücker und Unterdrückte, Gläubige und Ketzer gelebt haben und oft auf gewaltsame Weise gestorben sind. Sie alle tragen nicht nur den Namen des Ich-Erzählers, sie erstehen auch als seine mehreren Ichs. So taucht er in die Vergangenheit, stellt sich mitten in die historischen Getümmel, steigt in Schicksal und Sprache seiner Ahnen und holt sie in unsere Gegenwart.
Wer im Buch auf die drauf- und dreinschlagenden Horden und Kohorten stößt, sich einliest in die Mordenden und Gemordeten, Meuchelnden und Gemeuchelten, Henker und Gehenkten, Schuldigen und Unschuldigen, auf die Opfer-täter und Täteropfer und deren Hochmut und Fanatismus, Käuflichkeit und Verworfenheit mit all dem Schrecken und Entsetzen, dem Leiden und Töten, wer also mittendrin ist in Inferno und Apokalypse, der kann sich dieser Ästhetik des Schreckens wohl nur entziehen, indem er sich schaudernd distanziert.
Aber keine Gefahr wäre ausgeräumt, indem man sie ignorierte; ein Böses ist nicht weniger bös, indem man sich davor bekreuzigt. Nur wer die tausend Möglichkeiten kennt und benennt, hat die Chance, der Wirklichkeit näherzukommen – sofern er dazu bereit ist.

Der Autor zu seinem Roman:

  • Die 80 setzt eine harte Zäsur. Da bedrängen einen unerbittlich die Fragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Was ist gewesen und Was bleibt? Da gerät man leicht in den Mahlstrom der Geschichte, seiner eigenen und der seiner Vorfahren. Das ist ein gewaltiges irrationales Unternehmen.
  • Die Vorfahren, die Toten, von denen wir herkommen, sind Teil des Myzels, in dem wir wurzeln. Dem nachzu-spekulieren ist ein interessantes Spiel mit Möglichkeiten, eine abenteuerliche Schnitzeljagd und ein phantastisches Flanieren und Sinnieren in fremden Leben, die sich letzten Endes als Teil des eigenen herausstellen können – als verblüffende Collage von Selbstaussagen.
    Der Erzähler kommt nicht umhin, allen von ihm beschriebenen Leben das seine zu unterlegen.
  • Jeder Stoff sucht sich seine Sprache. Ich schreibe an gegen Schön- und Edelsprech, das Konflikte und Kata-strophen normgerecht zu Hochdeutsch einschmilzt und sie dadurch leicht lesbar macht. Mir geht es um die Mobilisierung sprachlicher Register und um eine Ausschöpfung eigenartiger sprachlicher, rhythmischer, poetischer Möglichkeiten, um das Sprechen und Schreiben sinnlich erfahren zu können. Wörter, Wortpassagen und Wort-klänge lösen in mir körperliche Reaktionen aus.
  • Mein Mund ist voll Stottern, aber wer schreibt, muss durchs Stummland hindurch und sich die abgewetzte Sprache wieder neu zurecht schreiben. Und nirgends eine Beruhigung des Lesers. Nirgends Besänftigung, Entspannung.
  • Wen Brandmale schmerzen, der schreibt anders als ein Sonnyboy, der sich an Feuern wärmt.